Instrumentale Praxis in der Schule



Klassenmusizieren 1998
Stand: April 1998/2008 © Martin Schlu

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1997 begannen wir mit den Vorbereitungen um eine komplette Schulklasse mit Instrumenten auszustatten und ihnen das Spielen darauf beizubringen. Auf die Idee gekommen war ich durch eine Vortrag der LAG Musik in der Akademie Remscheid, in dem dieses Modell vorgestellt wurde und da ich nach fünf Jahren Musicalarbeit auch mal etwas anderes ausprobieren wollte, meldete ich mich zur Fortbildung an im Sommer 1996 an. Die erste Phase fand in Ravensburg statt, jeder mußte jedes Blasinstrument erlernen und da ich Blechbläser bin, mußte ich die Grundbegriffe von Querflöte, Klarinette und Saxophon irgendwie erlernen. Ich kam mit einem gebrachten Alto nach Hause und verbrachte fortan viele Stunden damit, Kollegen eine Wette anzubieten ("Unterstützt du mein Projekt, wenn ich dir in fünf Minuten eine Tonleiter auf dem Alto zeige?") Nach einem halben Jahr waren soviele Kollegen überzeugt, daß es für eine Mehrheit in der Lehrerkonferenz reichte und weil man mich für bekloppt hielt ("der hält das ja sowieso nicht durch"), ließ man mich machen.
 
Ich beganne im August 1998 mit achtunddreißig Kindern, die aus dem gesamten fünften Jahrgang kommen konnten. Die Eltern mußten sich verpflichten zwei Jahre lang monatlich fünfundzwanzig Mark zu zahlen, dafür bekam ihr Kind zwei Jahre lang ein Instrument und wöchentlich vier Stunden Unterricht (damals noch 45 min.) im Orchesterverband. Zu Beginn wollte ich eigentlich eine Musikklasse haben, doch dies scheiterte mit der Begründung, dies sei ja eine "gymnasiale Elite" und das wolle man nicht, man sei ja eine Gesamtschule. Aus dieser Entscheidung resultierte ein Flut von Problemen, denn nun mußte der Musikunterricht geblockt werden, ich war mit allen 38 Kindern in der Aula und drei Kolleg/inn/en (zwei davon fachfremd) mußten mit drei Gruppen aus vier Klassen in zwei Musikräumen und einem Klassenzimmer "normalen" Unterricht machen. Als die ersten aus dem Orchesterprojekt aussteigen wollten, ging dies nur mit Mühe und was disziplinmäßig mit 38 Kindern manchmal abging, will ich lieber nicht beschreiben.
 
Zuerst wurden alle Kinder vier Wochen über die Blockflöte gejagt, bis sie in der Lage waren, in drei Gruppen einen Kanon durchzuhalten oder ein einfaches Lied mit Klavierbegleitung u spielen. Am 28. September 1998 fuhr ich mit den Kindern für eine Woche in die JH Bad Honnef, wo sie das erste Mal "ihr richtiges" Instrument in Empfang nahmen: Sechs Trompeten, sechs Klarinetten, sechs Flöten, drei Posaunen, drei Hörner, zwei Tuben (viel zu groß für zehnjährige Kinder, eine "halbe" Tuba wäre besser gewesen), außerdem Altos, ein Tenor, Gitarre, Baß, Keyboard und Schlagzeug. In der Jugendherberge konnten wir in kleinen Gruppen effektiv arbeiten und eine tägliche Spiel- und Probenzeit von ca. zehn Stunden war normal. Die Kinder waren von den Instrumenten nicht wegzubekommen und hätten sie am liebsten noch mit ins Bett genommen - zu ihren Kuscheltieren. Nach fünf Tagen Arbeit waren alle Kinder in der Lage auf ihrem Hauptinstrument einen Kanon wie „Bruder Jakob" oder etwas Ähnliches zu spielen und ihre Stimme durchzuhalten. In der Folgezeit wurde nachmittags und im "Musikunterricht" an einfachen Arrangements gearbeitet.
 
Zum ersten Team gehörte ein Kollege aus der Ravensburger Forbildung und eine junge Musikstudentin (Andrea Zerbes), die noch jahrelang als Instrumentallehrerin bei uns arbeitete und von allen Saxmädchen heiß und innig geliebt wurde. Zwischendurch gab es mehrere Presseinterviews, weil wir die erste Schule in in NRW waren, die dieses Projekt durchführte und im "Gooldenen Blatt" erschien ein doppelseitiger Artikel, der Spenden einbringen sollte, denn wir hatten ja noch DM 30.000 irgendwie zu bezahlen. Der Bundesverband Deutscher Musikinstrumentenhersteller (BDMH) hatte das Projekt initiiert und organisierte eine Ratenzahlung, die es uns ermöglichte, in zwei Jahren alle Instrumente abzuzahlen - unter anderem auch zwei dicke Tuben für dicke DM 15.000.-, die unser teuerstes Lehrgeld waren, denn man hatte uns Instrumente geschickt, die genausogroß waren, wie die Kinder, die sie spielen sollten. Wir haben mit Tubaständern gearbeitet, die Instrumente an Galgen aufgehängt - es war nichts zu machen, denn sie waren einfach zu groß für die Kinder. Wir haben diese Instrumente in den nächsten Jahren auch verkauft und durch E-Bässe ersetzt und es gab auch Kinderkrankheite der Instrumente, denn "deutsch" waren die wenigsten Instrumente, eher chinesisch. Die ersten sechs Trompeten haben von Anfang an hängende Ventile gehabt (bis heute), die man alle sechs Monate ausschleifen mußte, weil sie schnell verdreckten - die Trompeten einer anderen Firma hatten dies später nicht. Aus der ersten Instrumentenserie kann man nur die Flöten und Klarinetten von Bufett-Crampon empfehlen, der Rest war überteuert oder/und nicht von brauchbarer Qualität (später habe ich erfahren, daß wir so etwas wie Versuchskaninchen waren).
 
Die Festlegung auf ein Blasorchester war der zweite große konzeptionelle Fehler nach der Festlegung gegen eine Musikklasse, denn die Literatur, die es für so ein Anfängerorchester gab, sprach unsere Kinder überhaupt nicht an. Aus dieser Zeit gibt es noch etliche hundert Arrangements mit wenigen Tönen und irgendwann entdeckte ich Martinslieder - die konnte jeder sppielen. Jedenfalls konnte im November, nach sechs Wochen Unterricht der erste Martinszug in Godesberg gespielt werden und mittlerweile sind wir in Deutschland die erste Adresse, wenn es um Martinslieder geht.
 
Wider Erwarten der Kollgen hielten die meisten Kinder zwei Jahre durch - die Instrumente gehörten nun uns und wurden gleich weitervemietet, denn es war schick geworden, sein Kind in die "Orchesterklasse" anzumelden. Da wir nun Überschüsse erwirtschaften konnten, war es möglich die Gruppen kleiner zu machen und Geld in Instrumentallehrer zu investieren. Eine so große Gruppe wie die des ersten Jahres haben wir aber nie wieder gehabt.
 
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